
Da ist das Ding! Christian Streich, brauner Anzug, schweißnasse Haare, irre Augen, reckt beide Fäuste in den Himmel. Soeben hat sein SC Freiburg im Potsdamer Karl-Liebknecht-Stadion den DFB-Junioren-Pokal 2009 gewonnen. Gegen Borussia Dortmund, bei denen ein Junge namens Fabian Götze gerade den entscheidenden Strafstoß versemmelt hat. Sein Bruder Mario hingegen hat sich endgültig auf den Zettel des Profitrainers Jürgen Klopp gespielt. Zwei Karrieren auf dem Scheideweg.
Viehmarkt oder Wolke Sieben?
Auch auf Freiburger Seite jubeln zwei Jungs, deren sportliche Zukunft sich bald diametral entgegengesetzt zueinander entwickeln wird. Da stehen Oliver Baumann, Oliver Sorg, Jonathan Schmid – Jungs, die Jahre später die Bundesliga von hinten aufrollen werden. Da steht ebenfalls: Niklas Ginter, für viele im Breisgau längst ein sicherer Kandidat für eine solide Bundesliga-Karriere. Oben auf der Tribüne sitzt der 15-jährige Matthias, selbst in der C‑Jugend des SC Freiburg aktiv, und jubelt seinem großen Bruder zu. Der hatte den wichtigen 1:1‑Ausgleich in der 78. Minute erzielt, und so die Verlängerung erst möglich gemacht. Er darf sich ab sofort Pokalheld nennen.
Heute, knapp vier Jahre später, spielt der 22-jährige Niklas Ginter beim SV Endingen, Verbandsliga Südbaden. Und während er mit Kreuzbandrissen und falscher Karriereplanung in die Untiefen des deutschen Vereinsfußballs abgetaucht ist, wurde sein kleiner Bruder Matthias einer der Shootingstars jener Freiburger Elf, die sich dieser Tage wahlweise auf dem Viehmarkt oder auf Bundesligawolke Sieben wähnt.
Ist Freiburg jetzt normal?
Frühjahr 2012. Im traditionell beschaulichen Freiburg brennt der Baum. Der Wohlfühl-Ballon SC Freiburg ist zum Bersten gespannt. Hoffnungslos abgeschlagen taumelt der Klub in Richtung Zweite Liga. Die Ruhe, um welche die ganze Liga diesen Klub jahrelang beneidet hatte, scheint dahin. Stattdessen gibt es jetzt Kurzschlussreaktionen. Trainer raus. Rumms. Sechs Spieler freigestellt. Rumms. Einer von ihnen soll Shampoo geklaut haben. Bitte was? So einen bizarren Kündigungsgrund kannte man sonst nur aus Heißblutregionen wie Köln, Kaiserslautern oder dem Ruhrgebiet. Jetzt sind sie also auch in Freiburg normal geworden, unken einige.
Doch der Klub beordert in diesen wilden Tagen kurzerhand den bis dato unbekannten Jugendtrainer Christian Streich auf die Trainerbank der Profis. Einen Mann, der mit dem Fahrrad zum Training kommt, in einem Satz über Goethe und die abkippende Sechs fabulieren kann und vom ersten Tag an zugibt, dass er eigentlich keinen Bock auf das Haifischbecken Bundesliga hat. Ein Mann aus dem alten Freiburg also. Mehr Yogi-Tee als Energy-Drink. Mehr Uni als Profifußball. Irgendwie beruhigend, dass es so einen noch gibt. Und damit er es überhaupt erträgt, bringt er paar seiner A‑Jugendlichen mit nach oben: Nicolai Lorenzoni, Oliver Sorg und Matthias Ginter.
Der 18-Jährige war in der A‑Jugend vor allem als offensiver Mittelfeldmann eingesetzt worden, doch an ihm beweist sich schnell, auf welches Ideal der Trainer Christian Streich in seiner Ausbildung in der Freiburger Fußballschule vor allem gesetzt hat: Flexibilität. Ginter wird im Trainingslager auf nahezu allen Positionen eingesetzt und macht seine Sache so gut, dass er im ersten Rückrundenspiel der Saison 2011/12 gegen den Abstiegskonkurrenten FC Augsburg in der 70. Minute sein Bundesliga-Debüt feiern darf. Nur 18 Minuten später kennt die ganze Liga den neuen Jungspund, denn in der 88. Minute köpft der 1,88-Meter-Bengel den 1:0‑Siegtreffer für den SC Freiburg. Im Anschluss wird sein Trainer gefragt, was es denn zu dem vor den Medien streng abgeschirmten Youngster zu sagen gebe. Der antwortet im Stile einer Glucke, die in Freiburg knapp 20 Jahre im Jugendbereich tätig war: „Matthias Ginter ist eingewechselt worden, hat ein Tor erzielt und macht in drei Monaten sein Abitur.“
„Wurde nie als Innenverteidiger ausgebildet“
Doch Ginters Tor ist eine Leuchtfackel im dunklen Abstiegskampf, das Startsignal für eine furiose Aufholjagd, bei der die Breisgauer von Tabellenplatz 18 auf Rang 12 stürmen, am Ende der Saison sogar auf Platz 6 der Rückrundentabelle liegen. Neuling Ginter macht 13 Spiele, wird im offensiven Mittelfeld eingesetzt, bis er sich schließlich als Innenverteidiger etabliert. „ Ehrlich gesagt wurde ich nie als Innenverteidiger ausgebildet. In der Jugend war ich häufig der Zehner oder der offensive Sechser“, sagt er später in einem Interview mit spox.com. Am Ende der Saison wird er mit der „Fritz-Walter-Medaille“ als bester U18-Nachwuchsspieler des Landes ausgezeichnet, unterschreibt einen Profivertrag und gewinnt mit den A‑Junioren des SC Freiburg auch noch den DFB-Junioren-Pokal. Einen kometenhaften Aufstieg könnte man das nennen. Doch Superlative dieser Art sind in Freiburg in etwa so beliebt wie ein generelles Fahrradverbot.
Die Großen klopfen schon an
Auch wenn er immer wieder ins Mittelfeld gezogen wird, bildet Ginter meist zusammen mit Oliver Sorg, Mensur Mujdza sowie seinem Innenverteidiger-Kollegen Fallou Diagne das defensive Prunkstück der aufmüpfigen Freiburger Mannschaft, die auf besten Wege ist, sich sensationell für den Europapokal zu qualifizieren. Der kürzeste Weg führt dabei über den DFB-Pokal.
Doch der sportliche Erfolg weckt Begehrlichkeiten. Neben den sicheren Abgängen von Max Kruse (Mönchengladbach) und Jan Rosenthal (Frankfurt) wurde Ginter jüngst auf der Einkaufsliste von Bayer Leverkusen gesichtet. Und auch wenn er beteuert, dass er sich keinen besseren Trainer als Christian Streich vorstellen kann, die Anfragen für Ginter werden sich häufen. Denn der Rechtsfuß ist schnell, vielseitig, zweikampfstark und hat ein für sein Alter herausragendes Stellungsspiel. Kurzum: Er ist ein Abbild des modernen Verteidigers. Zudem ist Ginter ein echter Pokalspezialist. Seit 2011 hat er kein DFB-Pokalspiel mehr verloren. Zweimal holte er in dieser Zeit mit der A‑Jugend den Pott, nun steht er mit den Profis vor dem Schritt ins Finale. Und wer weiß, wenn das Fußballwunder von Freiburg ein echtes Happy-End findet, sitzt im Mai 2013 wieder einer der Ginter-Brüder auf der Tribüne und jubelt seinem Bruder zu. Unten wird Christian Streich die Fäuste in den Berliner Himmel recken. Und Matthias könnte auf dem Rasen stehen und schreien: „Da ist das Ding!“
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